Tisch voll mit Essen, in der Mitte liegt ein Wecker
Beim Abnehmen kommt es nicht nur darauf an, was man isst, sondern auch, wann man etwas isst, heißt es in der Chronobiologie.
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Wann man essen soll, wie viel und was genau, das beschäftigt manche Menschen enorm. Kein Wunder, jeder und jede muss essen, um zu (über)leben. Und es hat starken Einfluss auf unsere Befindlichkeit. Nicht nur Kinder können ziemlich rasch unentspannt werden, wenn sie Hunger haben, auch so mancher Erwachsene wird "hangry", wie die Amerikaner das nennen. Hungergrantig sagt man hierzulande.

Entsprechend gibt es eine Unzahl an Ernährungskonzepten, Diäten und Dogmen, wie die ideale Ernährung auszusehen hat. Die jeweiligen Verfechter propagieren ihre Essform dabei meist als die einzige – und allgemeingültige – Wahrheit. Kein Wunder, das vermeintlich ideale Körperbild ist so präsent in unserer Kultur, dass mit dem Erreichen desselben Unmengen an Geld zu verdienen sind.

Tatsächlich gibt es aber im Bereich der Ernährung nur sehr wenig gesichertes Wissen. Wie gesunde Ernährung aussieht, was unterschiedliche Ernährungsformen bewirken und welche Lebensmittel besonders guttun, dieses Wissen beruht oft nur auf Erfahrungswerten. Studien zeigen zu einem großen Teil nur Korrelationen, kausale Zusammenhänge kann man oft keine erkennen.

Es gibt dabei ein Forschungsgebiet, auf das im Bereich der Ernährung noch relativ wenig Rücksicht genommen wird, das viele auch gar nicht kennen: die Chronobiologie. Sie setzt sich mit den inneren Uhren in unserem Körper auseinander, die unseren Tag-und-Nacht-Rhythmus steuern, das Ausschütten der Hormone und auch den Stoffwechsel. In der Wissenschaft ist es bereits gut etabliert, 2017 haben die US-Wissenschafter Jeffrey C. Hall, Michael Rosbash und Michael W. Young den Medizinnobelpreis für ihre Forschung bekommen.

In der breiten Öffentlichkeit haben sich die Erkenntnisse aber noch recht wenig durchgesetzt, und auch in der Ernährungswissenschaft arbeitet man noch kaum damit. Das bedauert der Ernährungswissenschafter Edmund Semler, wissenschaftlicher Leiter der Deutschen Fastenakademie. Im STANDARD-Interview erklärt er, warum die ideale Essenszeit zu Mittag ist, wie innere Uhren den Stoffwechsel steuern und warum eine negative Kalorienbilanz als Dogma in der Ernährungswissenschaft ausgedient hat.

STANDARD: Gibt es eine ideale Uhrzeit für die Hauptmahlzeit des Tages?

Semler: Chronobiologisch gesehen ja, um die Mittagszeit. Da ist das komplexe Zusammenspiel von Hormonen und Enzymen, die am Verdauungsprozess beteiligt sind, am effektivsten.

STANDARD: Was passiert, wenn man am Abend die größte Mahlzeit isst?

Semler: Große Kalorienmengen spätabends führen zu regelrechtem Hormonchaos. Fehlendes Tageslicht ist nämlich ein sehr starkes Signal für den Körper, alles runterzufahren und sich auf die Nachtruhe vorzubereiten. Essen hingegen ist immer ein starker Reiz für das Wachsein, ein deutliches Signal für Aktivität. Auch das Insulin wirkt anders. Der Körper schüttet in der Nacht zwar ähnliche Mengen des Hormons aus wie zu Mittag, aber es wirkt bei weitem nicht so gut. Man spricht von reduzierter Insulinsensitivität, dadurch wird die Nahrung grundsätzlich schlechter verarbeitet.

STANDARD: Und was ist der Grund dafür?

Semler: Dass der Mensch ein tagaktives Lebewesen ist. Das konnte man in mehreren Experimenten feststellen, allen voran bei den Andechser Bunker-Experimenten in den 1960er-Jahren, die so etwas wie die Geburtsstunde der Chronobiologie des Menschen sind. Dafür haben sich mehrere Hundert Menschen freiwillig in einen Bunker ohne Tageslichteinfluss begeben, um die Auswirkungen des Lebens in einer künstlichen Welt der Zeitlosigkeit auf den Organismus zu untersuchen. Es wurde nachgewiesen, dass der Mensch eine innere Uhr und einen angeborenen Hungerrhythmus von vier bis fünf Stunden hat, was zu einem natürlichen Drei-Mahlzeiten-Schema pro Tag führt.

Zudem erkannte man, dass alle Stoffwechselprozesse im Organismus sogenannten zirkadianen Rhythmen unterliegen, die ohne den Zeitgeber Tageslicht ungefähr 25 Stunden lang sind, also circa einen Tag. Die innere Uhr sitzt im Gehirn und wird über die Augen durch Tageslicht synchronisiert. Sie dirigiert wiederum alle Zellen, die alle eine eigene innere Uhr haben. Diese peripheren Uhren werden auch durch externe Zeitgeber wie Nahrung und körperliche Aktivität gesteuert.

STANDARD: Sie betonen das Insulin. Warum ist das so wichtig?

Semler: Weil dieses Hormon auch bei der Gewichtsregulation eine Schlüsselrolle spielt. Der Körper kann nur dann Fett abbauen, wenn der Insulinspiegel niedrig ist. Kommt es abends zu keiner oder zu einer schwachen Insulinreaktion, hat der Stoffwechsel über Nacht viele Stunden Zeit für die Fettverbrennung. Eine abendliche Mahlzeit mit viel Protein und Kohlenhydraten, wie zum Beispiel Pizza mit Käse, treibt das Insulin in die Höhe und verhindert eine Fettmobilisierung sowie eine gründliche nächtliche Zellreinigung durch Autophagie.

STANDARD: Und woher weiß man das? Studien im Bereich der Ernährungswissenschaften liefern ja wenig Kausalität ...

Semler: Es gibt zum Beispiel eine aufschlussreiche japanische Studie, die schon über 20 Jahre alt ist. Die Erkenntnisse sind also nicht neu. Studenten wurde eine nachtbetonte Lebensweise auferlegt, bei der sie den Großteil der Nahrung nach 19 Uhr aufnahmen. Dies führte zu chaotischen Insulinreaktionen und katastrophal schlechter Glukoseverwertung, ähnlich der Vorstufe von Diabetes Mellitus Typ 2, und das bereits nach drei Wochen.

STANDARD: Das heißt also, man sollte am Abend nicht so viel essen?

Semler: Da ist schon was dran, vor allem bei Übergewicht. Die optimale Ernährung ist natürlich immer etwas Individuelles und wird maßgeblich von Faktoren wie Jahreszeit, Klima, geografischer Lage, Bewegungsverhalten und natürlich der Psyche beeinflusst. Fakt ist, dass die gleiche Kalorienmenge, zu unterschiedlichen Tageszeiten verzehrt, vom Stoffwechsel anders verarbeitet wird. Eine Kalorie ist nicht immer eine Kalorie. Dazu gibt es eine Vielzahl an Studien mit Tieren, aber auch immer mehr bestätigende Erkenntnisse aus Humanstudien.

STANDARD: Die Regel, dass man weniger Kalorien aufnehmen muss, als man verbraucht, ist also so nicht ganz richtig?

Semler: Genau. Dieses Modell der negativen Kalorienbilanz ist ja nach wie vor das bestimmende Dogma in Ernährungswissenschaft und Ernährungsmedizin. Dabei ist es in dieser Eindimensionalität schon lange wissenschaftlich widerlegt. Zudem zeigt ja allein die Lebenswirklichkeit unzähliger Menschen, dass Abnehmen und Zunehmen viel komplexere Phänomene sind.

In einer bereits 1994 veröffentlichten Studie haben zwei Gruppen von jeweils 15 adipösen Frauen zwölf Wochen lang eine energiereduzierte Diät praktiziert. Beide Gruppen haben die gleiche Kalorienanzahl zu sich genommen, aber die eine Versuchsgruppe ernährte sich nach dem Prinzip, dass die Nahrungsaufnahme keinen starken Insulinreiz auslöst. Das heißt, es gab keine Kombination von kohlenhydrat- und proteinreichen Nahrungsmitteln in einer Mahlzeit und keine Zwischenmahlzeiten. Nach den zwölf Wochen hatte diese Versuchsgruppe sowohl günstigere Nüchtern-Insulin-Werte als auch einen deutlich höheren Gewichtsverlust von durchschnittlich fast zwei Kilogramm. Wenn man bedenkt, dass ein Kilo Gewichtsverlust rund 7000 Kilokalorien bedeutet, dann handelt es sich um einen Unterschied von fast 14.000 Kilokalorien zwischen beiden Gruppen. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass es eben nicht nur auf die tägliche Kalorienmenge ankommt, sondern auch auf Zeitpunkt und Häufigkeit der Mahlzeiten.

Im Gegensatz zur Ernährungswissenschaft hat die Pharmakologie die Bedeutung der Erkenntnisse der Chronobiologie bereits erkannt. In der Chronopharmakologie wird die rhythmisch wechselnde Empfindlichkeit der Organsysteme berücksichtigt und versucht, das richtige Medikament auch zum optimalen Zeitpunkt zu geben. Inzwischen ist bei über 100 Medikamenten eine zeitabhängige Wirkung nachgewiesen, also dass Wirkung und auch Nebenwirkung erheblich von der Tageszeit abhängen.

STANDARD: Wie kann also, aus Ihrer Sicht, Abnehmen gelingen?

Semler: Mein wichtigster Tipp ist, beim Essverhalten anzusetzen, also dreimal am Tag zu essen – oder nur zweimal, wenn man sich nicht so viel bewegt –, mit Essenspausen von vier bis fünf Stunden. Und die letzte Mahlzeit sollte man so früh wie möglich zu sich nehmen, was seit einigen Jahren als Intervallfasten bekannt ist. Diese Strategie ist aus meiner Sicht kurzfristig erfolgversprechender, als gleich eine grundlegende Ernährungsumstellung Richtung Vollwert-Ernährung anzugehen. Aus gesundheitlichen Gründen empfehle ich in weiterer Folge aber eine schrittweise Umstellung auf Vollwert-Ernährung, frei nach der Grundregel "Eat food. Not too much. Mostly plants", also: Iss Unverarbeitetes. Nicht zu viel. Hauptsächlich Pflanzen.

STANDARD: Aber warum ist es überhaupt so schwierig, auf ein gutes Essverhalten zu achten?

Semler: Weil wir ständig einer regelrechten Armada an äußeren Einflüssen ausgesetzt sind, die das natürliche Hungergefühl, das sich alle vier bis fünf Stunden melden würde, überlagern. An jeder Ecke gibt es Werbung oder Gerüche, die uns an Essen erinnern und Appetit erzeugen. Stress ist zudem ein wichtiger Essenstrigger, ebenso wie viele negative Emotionen. Tatsache ist, dass Essen auch sehr stark beruhigend und stimmungsaufhellend wirkt.

STANDARD: Und wie findet man dieses natürliche, angeborene Hungergefühl wieder?

Semler: Am besten durch ein paar Tage Fasten nach Buchinger/Lützner. Dann spürt man wieder ein echtes Hungergefühl und fragt sich eher, ob man körperlichen Hunger verspürt oder ob man womöglich aus anderen Gründen essen will, Stress, Emotionsregulierung, Gusto oder auch Langeweile. Durch Fasten lernt man wieder, zwischen Hunger und Appetit zu unterscheiden.

STANDARD: Es gibt aber viele Länder, Italien etwa und vor allem Spanien, in denen man wirklich spät und ausgiebig zu Abend isst, oft erst um 22 Uhr. Die Menschen dort sind aber auch nicht wirklich dicker als hierzulande, eher das Gegenteil. Wie passt das mit den Erkenntnissen der Chronobiologie zusammen?

Semler: Das ist eine wirklich spannende Frage und sollte dringend untersucht werden, auch in nationenvergleichenden Studien. Ich kann mir aber vorstellen, dass hier das Klima eine Rolle spielt, wie ich ja schon angesprochen habe. Es ist länger hell, wärmer und man betreibt das späte Essen auch schon seit vielen Generationen. Dazu kommt, dass man in diesen Ländern kaum frühstückt, oft nur einen Kaffee. Ich vermute, der Organismus hat sich hier in einer gewissen Weise angepasst.

Man müsste aber genau untersuchen, ob es wirklich so verbreitet ist, dass hauptsächlich abends gegessen wird, oder ob das eher bei sozialen Events der Fall ist. Wir sehen das ja nur, wenn wir selbst im Urlaub sind, und da haben viele einen anderen Rhythmus. Es gibt tatsächlich auch für Spanien Untersuchungen, die zeigen, dass der Stoffwechsel in Bezug auf Gewichtsreduktion besser funktioniert, wenn man den Großteil der Kilokalorien vor 15 Uhr zu sich nimmt.

STANDARD: Wie kann es bei all diesen Erkenntnissen sein, dass manche trotz eines sehr unregelmäßigen Essensrhythmus praktisch überhaupt nicht zunehmen und andere quasi bei der kleinsten Abweichung? Ist das angeboren?

Semler: Tatsächlich versucht man in der Chronobiologie mittlerweile, die Menschen bei Untersuchungen nach Chronotypen einzuteilen, also ob man eher Morgen- oder Abendmensch ist, Lerche oder Eule. Es könnte durchaus sein, dass der Lerchentyp bei einer üppigen Abendmahlzeit anders reagiert als der Eulentyp, der insgesamt einen späteren zirkadianen Rhythmus hat. Hier sind noch viele Fragen offen. Was man aber sagen kann, ist, dass viele Menschen einfach gegen ihren inneren Rhythmus leben, oft aufgrund äußerer Umstände. Die Schulen etwa und auch viele Jobs starten teilweise schon vor acht Uhr, da sind nicht wenige gefühlt noch im "Wachkoma". Gerade im Jugendalter ist das System bei vielen um diese Uhrzeit einfach noch nicht hochgefahren, dann zieht die erste Unterrichtsstunde an vielen wirkungslos vorbei.

Wie komplex dieses Zusammenspiel aus Kilokalorien, Uhrzeit, Hormonen und mehr ist, zeigt auch die Tatsache, dass viele Frauen mit der Hormonumstellung im Wechsel plötzlich zunehmen, obwohl sie völlig gleich weiteressen. Allein mit dem Modell der Kalorienbilanz sind solche Gewichtszunahmen sehr oft nicht erklärbar. Hier sollte die Ernährungswissenschaft noch viel genauer hinschauen. (Pia Kruckenhauser, 7.5.2024)