Enrico Letta hält seinen Bericht in den Händen.
Laut Enrico Letta ist die EU "mehr als ein Markt". Seine Bericht zur Zukunft der Union stößt auf breite Zustimmung.
AP/Harry Nakos

"Es ist paradox", sagt Enrico Letta. "Das Ersparte der Europäer fließt über das Finanzsystem in die USA und füttert dort die Wirtschaft. Mit dem Geld investieren die Amerikaner dann wiederum in europäische Unternehmen." Die Ursache dafür sieht der ehemalige Ministerpräsident Italiens darin, dass der EU-Binnenmarkt nie vollendet wurde. Es gebe nach wie vor keine Kapitalmarktunion, keine Bankenunion, keine Energieunion und keine Verkehrsunion. All das führe dazu, dass die USA und andere Weltregionen Europa immer stärker abhängen.

Letta, mittlerweile Präsident des Jacques-Delors-Instituts in Paris, wurde von der EU-Kommission und dem Europäischen Rat beauftragt, Reformen für den EU-Binnenmarkt auszuarbeiten. Mit seinem fertigen Bericht tourt Letta jetzt durch Europa. Sein erster Halt führte ihn auf Einladung des Forums Alpbach zu einer Podiumsdiskussion nach Wien. "Ich fordere in meinem Bericht keine Änderung der EU-Verträge. Das wäre unrealistisch", sagt Letta. "Es geht um konkrete Lösungen, die tatsächlich umsetzbar sind."

Erasmus für alle 17-Jährigen

Auf Nachfrage von Moderatorin Monika Rosen, Vizepräsidentin der Österreichisch-Amerikanischen Gesellschaft, nennt Letta ein Beispiel: Bei seiner Tour durch Europa müsse er regelmäßig auf das Flugzeug zurückgreifen. "Ich habe versucht, mit dem Zug zu fahren. Das ist unmöglich." Zwar gebe es gute innerstaatliche Verbindungen, aber kaum grenzüberschreitende Schnellzugstrecken. "Wir haben immer nur auf nationaler Ebene in das Schienennetz investiert. Das muss sich ändern."

Um die Jugend von der europäischen Idee zu begeistern, fordert Letta eine Ausweitung des Erasmus-Programms, das Auslandsaufenthalte für junge Menschen fördert. "Derzeit sind Auslandsaufenthalte nur für Wohlhabendere leistbar. Wir brauchen ein Erasmus-Programm für alle", fordert Letta. Die EU sollte Jugendlichen einen verpflichtenden Aufenthalt in einem anderen EU-Staat finanzieren, heißt es in seinem Bericht.

Neben der Freiheit zu reisen brauche es allerdings auch die Freiheit zu bleiben. Nach wie vor verlören periphere Regionen viel Potenzial, weil junge Menschen abwandern, die in ihrem Heimatland zu wenig Chancen sehen. "In der EU ziehen die Menschen vom Süden in den Norden und vom Osten in den Westen", sagt Letta. "Wir brauchen eine Kreislaufmobilität, so wie in den USA."

Fünfte Grundfreiheit?

Letta schlägt in seinem Bericht neben dem freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr eine fünfte EU-Grundfreiheit für Innovation, Forschung und Bildung vor. "Unsere vier Grundfreiheiten orientieren sich an der Welt, wie wir sie im 20. Jahrhundert kannten", sagt Letta. Im 21. Jahrhundert habe sich der Fokus aufgrund der Digitalisierung verschoben.

Derzeit würden vom Binnenmarkt und den Grundfreiheiten vor allem große Unternehmen profitieren, die die Ressourcen haben, um sich auf 27 verschiedene Steuersysteme einzustellen. Klein- und Mittelbetriebe (KMUs) würden dagegen wenig davon haben. "Europas Wirtschaft baut aber auf KMUs auf", betont Letta. Die größte Zukunftsfrage ist aus seiner Sicht nach wie vor unbeantwortet: Europa habe sich darauf geeinigt, seine Wirtschaft zu digitalisieren und zu ökologisieren. Woher das Geld dafür kommen soll, ist aber nach wie vor unklar. "Wir brauchen nicht nur öffentliches, sondern auch privates Kapital dafür", sagt Letta.

Viel Zustimmung für seinen Bericht bekam er von Othmar Karas, dem Ersten Vizepräsidenten des EU-Parlaments, der Montagabend ebenfalls auf dem Podium saß. "Der Bericht ist mehr als ein Bericht. Er sollte das Programm der nächsten Europäischen Kommission sein. Und Letta? Letta sollte das Programm als Erster Vizepräsident der EU-Kommission umsetzen." (Jakob Pflügl, 7.5.2024)